Ich hatte euch von meiner Idee erzählt, eine kleine Interviewreihe mit anderen Menschen zu machen, die ebenfalls Bekanntschaft mit Mister Hodgkin gemacht haben. Es hat genau 2 Monate gedauert bis ich meinen zweiten Gast heute hier begrüßen durfte. Sina und ich haben uns in der Reha kennengelernt und waren uns gleich sympathisch. Hier erzählt sie nun ihre ganz persönliche Geschichte.
Hallo Sina, ich freue mich sehr, dich auf meinem Blog begrüßen zu dürfen. Möchtest du dich kurz vorstellen?
Hi Izzie, klar. Ich bin Sina, 28 und komme aus dem wunderschönen und heute sehr sonnigen Ruhrgebiet.
Gleich zu Anfang, die wichtigste Frage: Wie geht es dir?
Puh, da ist sie. Die Frage, auf die es mir momentan wirklich schwer fällt, zu antworten. Ich möchte gerne sagen können: „Gut, gut, alles wieder in bester Ordnung.“ Und das wäre auch die Antwort, mit der die meisten meiner Gegenüber wohl am zufriedensten wären. Aber das ist nicht der Fall. Und da ich weder lügen möchte, noch meinen Gegenüber schocken oder gar überfordern, antworte ich zur Zeit mit einem „Joa, es geht.“ und begleitet wird das Ganze von einer merkwürdigen Mischung aus wohlwollendem Nicken und einem kleinen Schulterzucken.
Wenn sich die Frage auf den jetzigen Moment bezieht, ist die Antwort ganz leicht: Ich hab Schiss! Morgen ist die erste große Nachsorgeuntersuchung.
Das ist verständlich, dass das Angst in dir auslöst. Ich möchte versuchen, dich mit meinen Fragen etwas abzulenken. Was hast Du denn gemacht, bevor Du krank geworden bist?
Ich war und bin immer noch Studentin eines Bachelor-Studienganges, der BWL und Anglistik miteinander kombiniert. Nebenbei habe ich in einem Callcenter gejobbt. In erster Linie war ich also damit beschäftigt, das Studium irgendwie zu beenden und mich gleichzeitig seelisch auf das Berufsleben vorzubereiten.
In dieser spannenden Lebensphase hat es dich also erwischt. Wie ist dir aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmt?
Bei dieser Frage muss ich etwas ausholen.
Geschwollene Lymphknoten gehören zu mir, solange ich denken kann. Zum ersten Mal im Alter von fünf Jahren in der Leiste. Nach dem ersten Ärztemarathon meines Lebens wurden diese schließlich entfernt, der Befund war zum Glück unauffällig oder in Ärztesprache „unspezifisch“.
Als ich etwa acht Jahre alt war, schwollen dann Lymphknoten an meiner rechten Halsseite an. Aufgrund der Vorgeschichte wurde ich nicht erneut operiert, laut der Ärzte sollte sich das verwachsen. „Damit geht die nicht in die Pubertät“, ist so ein Satz, der sich bei mir eingebrannt hat. Also habe ich erstmal damit gelebt und meine Lymphies (liebevolle Beschreibung der Lymphknoten durch meine Mama) waren mal mehr und mal weniger dick und wurden immer regelmäßig durch Ultraschalluntersuchungen kontrolliert.
Irgendwann war ich dann 20 und die Dinger waren immer noch da. Und irgendwie, so war mein subjektiver Eindruck, wurden die immer größer. Also hin zum HNO und sich angucken lassen, als müsste man schon längst tot umgefallen sein. Vielleicht hier eine kurze Erklärung oder Neudeutsch Disclaimer: Da waren nicht, 1 oder 2 Lymphknoten leicht vergrößert, nee das war ein sehr großes Paket aus sehr vielen Lymphknoten von bis zu 3 cm Durchmesser. Klare Sache also: Sofort alles rausnehmen. Es folgte erneut ein unauffälliger Befund, zum Glück.
Ungefähr 1 ½ Jahre später fing es wieder an zu wuchern, wieder am Hals, wieder rechts. Puh, langsam wurde es echt lästig. Im Bonner Uniklinikum hat man dann beschlossen, dem ganzen mal auf den Grund zu gehen und rauszufinden, weshalb die denn nun immer so dick werden. Es folgte also ein weiterer Ärztemarathon mit dem Ergebnis, dass sie doch nochmal einen Lymphknoten rausnehmen müssen, um etwas Bösartiges auszuschließen. Also OP Nr. 3. Diesmal bekam ich nach einer Woche die Nachricht, die Pathologie sei sich nicht sicher, das Ganze ginge jetzt nach Frankfurt in ein Referenzlabor. Da ging mir zum ersten Mal so richtig die Düse. Aber auch dieses Mal gab es keinen Malignitätsnachweis (nicht bösartig). Ich wurde allerdings mit einer Diagnose entlassen: Lymphknotensarkoidose. Sarkiowas?? Ja genau richtig, das hab ich auch gedacht!
Echt Wahnsinn, dann waren deine Lymphknoten ja die ganze Zeit unauffällig. Wann ist denn das dann gekippt? Wann hast du erfahren, dass du Morbus Hodgkin hast und wie kam es nach den vielen Jahren dann doch noch zu der Diagnose?
Nachdem ich ein paar Jahre mit der Diagnose vor mich hin gelebt und die dicken Lymphknoten am Hals weitesgehend akzeptiert hatte, bekam ich im Herbst 2014 massive Probleme mit der Halswirbelsäule. Scheinbar hatte ich durch die Lymphies eine Fehlhaltung eingenommen, was sich besonders in Klausurphasen bemerkbar machte. Außerdem fand ich, dass die Schwellung wieder deutlich mehr geworden war, jedenfalls wurde ich permanent gefragt, ob ich mir die Weißheitszähne hätte ziehen lassen. Nein! Hab ich nicht! Grrr! Das war mir immer sehr unangenehm.
Zusammen mit meiner Mama hab ich dann den Plan gefasst, nach dem Studium – denn da hat man für sowas ja Zeit – einen erneuten Ärztemarathon zu starten, denn die bisher gestellte Diagnose war für mich zum einen total unbefriedigend und zum anderen zeigte ich keinerlei andere typische Symptome.
Irgendwann war mir klar: So lange will ich damit nicht warten. Ich will jetzt was tun! Ob das sowas wie eine Vorahnung war? Wer weiß das schon. Ein Arzt aus dem Bekanntenkreis brachte dann schlussendlich den Stein ins Rollen und ließ mich im Rheumazentrum Ruhrgebiet komplett durchchecken. Die haben dann ALLES gemacht: MRTs, Blutuntersuchungen, komplettes Programm. Mit dem Ergebnis, dass sie leider wieder nicht wirklich weiter wussten und schließlich ein weiterer Lymphknoten rausoperiert werden sollte.
Etwa eine Woche später lag ich dann wieder auf dem OP-Tisch im selben Krankenhaus wie sieben Jahre zuvor. Gleiches Spiel wie immer, ich war ja inzwischen Vollprofi und kannte das Ganze schon. Der Operateur kam am Tag nach der OP zu mir und sagte, dass es sehr untypisch für ein Lymphom aussah, was er da rausgeschnibbelt hatte. Eine Woche später sollte dann der Befund vorliegen. Weil die Probe aber erneut in ein Referenzlabor geschickt werden sollte, verzögerte sich der Besprechungstermin um eine weitere Woche. Wieder warten. Hölle. Ich hatte ein mieses Gefühl, ein verdammt mieses. Vorahnung? Keinen Schimmer. Ich weiß, dass ich ganz allergisch auf Menschen reagiert habe, die mich beruhigen wollten. Sätze wie „Das wird schon nichts schlimmes sein“ haben mich in den Wahnsinn getrieben.
Am 13. Oktober 2015 hatte das Warten ein Ende. Ein sehr netter Arzt hat meiner Mama und mir gesteckt, dass ich Krebs habe. Dödöm! An das Meiste von dem Gespräch kann ich mich nicht erinnern. Ich hab geweint. Meine Mama hat meine Hand gehalten. Das weiß ich noch.
Nach so vielen Check-Ups hatten wahrscheinlich alle die Hoffnung, dass der Befund negativ ist, wie bei den letzten Malen. Aber wie haben deine Familie und deine Freunde dann darauf reagiert, als es hieß, du hast Krebs?
Das war tatsächlich einer meiner ersten Gedanken ein paar Minuten nach der Diagnose. Wie zur Hölle sag ich das meiner Schwester, meinem Freund oder meinem Papa? Meine Mama hat dann meinem Papa und meiner Schwester die Hiobsbotschaft für mich überbracht. Mein Freund hatte vor dem Krankenhaus auf uns gewartet. Ihm das zu erzählen, war mit das Schlimmste für mich.
Abends saßen wir dann noch mit der Familie zusammen und haben versucht den Tag irgendwie einzuordnen und zu begreifen. Die Reaktionen hatten eins gemeinsam: Es waren alle unfassbar betroffen.
Ein oder zwei Tage nach der Diagnose hab ich dann beschlossen, eine Rund-Nachricht per Whats App an alle meine wichtigen Menschen zu schicken. Die Reaktionen waren recht ähnlich. Alle waren erschrocken und wussten wahrscheinlich nicht so richtig: „Was schreibt man nur auf sowas?“
Allgemein kann ich sagen, dass sich niemand meiner Freunde distanziert oder gar von mir abgewandt hat. Das liegt vielleicht daran, dass ich schon vorher eine sehr genaue Vorstellung von Freundschaft hatte und auch nur diejenigen als solche bezeichne, die für mich wirklich welche sind. Menschen, denen ich mich tief verbunden fühle und von denen ich mir kaum vorstellen kann, sie irgendwann nicht mehr in meinem Leben zu haben.
Es ist schön, dass deine Familie und deine Freunde so gut reagiert haben. Was hat dir dann in der Zeit des Krankseins besonders geholfen? Wie hast du dich abgelenkt, die Zeit vertrieben? Welche Tipps würdest Du anderen Betroffenen mit auf ihren Weg geben?
Also in erster Linie hat mir wirklich mein tolles Umfeld geholfen. Meine Familie, die mich bei allen Untersuchungen, Therapien, Gesprächen mit Ärzten und Blutkontrollen begleitet hat. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, immer mindestens noch eine Person dabei zu haben, die sich auch anhört, was die Ärzte sagen, mit aufpasst und auch weitere wichtige Fragen stellen kann, die einem selber womöglich gar nicht eingefallen wären. Man selber ist dabei wie in einem Film und ich muss ganz ehrlich sagen, viel von dem was die Ärzte gesagt haben, hatte ich kurze Zeit später schon wieder vergessen. So eine Diagnose ist beschissen genug, da sollte meiner Meinung nach niemand alleine durch müssen.
Auch meine Freunde waren für mich da. Ob durch Krankenhausbesuche, Besuche Zuhause oder einfach nur liebe Nachrichten, die einen wissen lassen „da denkt gerade jemand an dich“. Ich habe mir ziemlich schnell das Recht rausgenommen, auf solche Nachrichten auch mal nicht zu antworten. Wie es mir eben passte und das würde ich auch definitiv weiterempfehlen. Ich denke, es bringt einem gar nichts, sich in so einer Situation damit zu stressen, dass man noch auf 10 Nachrichten antworten muss. Oder sich gar dem blauen Häckchen-Wahn zu beugen, wenn man gerade sowieso völlig erschöpft ist. Das hat mit meinem Umfeld super funktioniert. Von allen Seiten wurde mir deutlich signalisiert, dass ich auch nein zu Besuch sagen darf, ihn mir aber genauso gut wünschen kann, wenn mir danach ist.
Abgelenkt habe ich mich eigentlich ganz klassisch: Spaziergänge, wenn möglich und ansonsten waren Netflix und Amazon Prime ganz hoch im Kurs. Dazu muss ich aber auch sagen, dass sich der Zeitraum bei mir nicht so zog, wie bei vielen anderen. Von Diagnose bis hin zur kompletten Remission waren es gerade mal drei Monate.
Was ich jedem Betroffenen mit auf den Weg geben würde, ist: Hört gut auf euch! Sowohl auf euren Körper, aber auch besonders auf eure innere Stimme, euer Bauchgefühl. Wenn euch etwas komisch vorkommt, fragt nach. Mir war es immer ganz wichtig, Bescheid zu wissen über das, was gerade mit mir passiert. Welches Medikament bekomme ich da gerade, wie genau läuft so eine Chemo ab. Ihr habt jederzeit das Recht, zu wissen, was mit euch gemacht wird, denn es ist immer noch (obwohl er in dieser Zeit sehr fremdbestimmt ist) euer Körper! Kommt ihr mit einem Pfleger oder gar einem Arzt nicht zurecht, sucht das Gespräch und bittet gegebenenfalls um jemand anderen.
Und fahrt in die Reha nachdem ihr alles geschafft habt! Ihr habt euch diese Auszeit verdient und ihr werdet dort einfach ein Stück weit an die Hand genommen, um physisch und psychisch wieder auf die Beine zu kommen. Wie du auch Izzie, war ich ja in Bad Oexen und kann das Programm für junge Erwachsene wirklich weiter empfehlen. Ihr seid dort umgeben von Gleichgesinnten und beinahe bedingungslosem Verständnis für das, was man erlebt hat und noch immer erlebt. Mir persönlich hat das viel Kraft gegeben.
Viele gute Hinweise für die Zeit der Erkrankung. Wie sieht es jetzt danach bei dir aus? Was hat sich für dich verändert? Wie setzt du deine Prioritäten im Vergleich zu vor der Erkrankung?
Zunächst einmal das Offensichtlichste: Ich trage jetzt eine flotte Kurzhaarfrisur! Wie vielen anderen, sind mir die Haare ca. 2 Wochen nach Therapiebeginn ausgefallen. Vielleicht an der Stelle ein kleiner Tipp an alle Angehörigen: Der Spruch „Die wachsen ja wieder“ oder „Na, das sollte ja das kleinste Übel sein“ ist Bullshit und hilft dem Betroffenen NULL! Mir ist schon bewusst, dass das in dem Moment gut gemeint ist, aber glaubt mir bitte: Niemand, der das nicht erlebt hat, kann sich vorstellen, wie es ist, sich nach und nach die Haare büschelweise und mühelos rausziehen zu können. Ich persönlich habe sehr an ihnen gehangen und mich vielleicht auch ein Stück weit über sie identifiziert. Ich vermisse sie sehr. Das geht auch nicht allen Betroffenen so, deshalb ziehe ich meinen Hut vor euch, die ihr so wunderbar selbstbewusst eure Glatzen zeigen konntet! So langsam Schritt für Schritt gewöhne ich mich an mein neues Aussehen und mein Inneres und Äußeres kommt sich wieder näher, aber das braucht einfach Zeit.
Ansonsten empfinde ich es so, dass alle um mich herum ein wenig näher zusammen gerückt sind und das ist sehr schön. Zu einigen ist das Verhältnis einfach nochmal ein ganzes Stück inniger geworden, was ich total genieße. Und ich habe in der Reha viele tolle, starke Menschen kennen gelernt, die mich einfach inspiriert und bereichert haben. Einige davon sind auf dem besten Wege, echte Herzensmenschen zu werden, die ich nicht mehr missen möchte und die sich ihrem Platz in meinem Herzen sicher sein können.
Grundsätzlich kann ich jetzt nach der Erkrankung sehr genau zwischen Dingen differenzieren, die mir gut tun und Dingen, die mir eben nicht gut tun. Ich versuche letztere, so gut es geht, zu meiden, was natürlich nie zu hundert Prozent funktioniert. Meine Schwester hat das letztens sehr schön formuliert: „Das ist ja eine ganz neue Klare-Grenzen-Sina.“ Ja, ich denke das trifft es ganz gut.
Meine Prioritäten liegen Momentan ganz klar bei Freunden und Familie und dabei Dinge zu tun, die gut für mich sind. In der Reha hab ich gemerkt, wie gut mir beispielsweise Bewegung tut und das habe ich bis jetzt gut in meinen Alltag integrieren können. Toi, toi, toi.
Wie geht es bei dir jetzt weiter? Was sind deine Pläne für die nächste Zeit?
Ich möchte unbedingt Klavierspielen lernen! Das steht ganz weit oben auf meiner Liste und ich recherchiere dazu ganz fleißig momentan. Ansonsten begebe ich mich ganz langsam zurück ins Studium und werde dieses Semester die ein oder andere Klausur schreiben. Alles Weitere wird sich zeigen.
Vielen Dank liebe Sina, dass du mir Rede und Antwort gestanden hast. Ich wünsche Dir, dass sich dein Inneres und dein Äußeres schnell wieder zusammenschweißen und dass du einen tollen Lehrer findest, der dir die Welt der Klaviermusik näher bringt.
Wer Fragen an Sina hat, kann gern das Kommentarfeld nutzen. Um die Interviewreihe fortzuführen, bin ich weiter auf der Suche nach anderen Betroffenen, die vielleicht auch Lust haben, ihre Geschichte hier zu erzählen, gern auch anonym.
Eure Izzie
Hier alle anderen Interviews mit starken Menschen wie Sina:
Hier findet ihr meine Gäste aus den vorhergehenden Interviews:
Kathi
Jeanette
Natascha
[1] Das Beitragsbild “Lemon Squash” ist ein Foto von Bas Van Uyen, Lizenz: CC BY-NC-ND (das Bild wurde beschnitten)